Vermehrt Fehlbildungen nach künstlicher Befruchtung
Vor kurzem habe ich hier einen Artikel geschrieben, der zeigte, dass Fehlbildungen nach ICSI nicht häufiger sind. Und nun erscheint im Deutschen Ärzteblatt ein Beitrag, aus dem das Gegenteil hervorgeht und der sich auf eine Studie bezieht, die im renommierten „Human Reproduction“ vorab publiziert wurde:
Kinder, die mit Techniken der assistierten Reproduktion (künstliche Befruchtung) gezeugt werden, kommen doppelt so häufig wie andere Kinder mit Fehlbildungen zur Welt. Dies zeigt eine Fallkontrollstudie der Centers of Disease Control and Prevention in Human Reproduction (2008; doi:10.1093/humrep/den387). Die Gründe sind unklar. […]
Jennita Reefhuis von den CDC in Atlanta hat deshalb die Daten des US-National Center on Birth Defects and Developmental Disabilities ausgewertet. Diese Datenbank sammelt zurzeit alle Fehlbildungen aus einer Reihe von Geburtskliniken in zehn US-Staaten. Schon jetzt ist es die größte Studie des Landes zu Fehlbildungen.
Die laufende Fallkontrollstudie soll helfen, die genetischen und umweltbedingten Ursachen von Fehlbildungen zu erkennen. Nach den jetzt vorgelegten Daten haben Kinder aus Einzelschwangerschaften nach künstlicher Befruchtung ein mehr als doppelt so hohes Risiko auf septale Herzfehler (adjustierte Odds Ratio aOR 2,1; 95-Prozent-Konfidenzintervall 1,1-4,0) oder auf Lippenspalten mit/ohne Gaumenspalte (aOR 2,4; 1,2-5,1).
Vierfach erhöht ist das Risiko auf eine anorektale Atresie (aOR 3,7; 1,5-9,1), und Ösophagusatresien wurden sogar viereinhalbfach häufiger gesehen (aOR 4,5; 1,9-10,5). Für weitere Fehlbildungen wurde eine tendenzielle Zunahme gefunden. Dass das Signifikanzniveau verfehlt wurde, könnte an der geringen Fallzahl der Studie von 281 Geburten gelegen haben. Die absolute Häufigkeit einer Lippenspalte mit/ohne Gaumenspalte beträgt normalerweise 1:950, unter den künstlich befruchteten Kindern stieg das Verhältnis auf 1:425.
Natürlich kommt man ins Grübeln, wenn man eine ganze Reihe von Studien kennt (im oben erwähnten Artikel noch einmal aufgeführt und verlinkt), die ein solches erhöhtes Fehlbildungsrisiko nicht nachweisen können. Wenn man liest, dass die Aussagen der aktuellen Studie auf 281 Geburten nach künstlicher Befruchtung beruhen, während andere Studien mehrere tausend durch IVF und ICSI gezeugte Kinder als Untersuchungsbasis haben und z. T. kontrollierte Studien sind, dann geht das Grübeln weiter, jedoch in eine andere Richtung. Der Schlußsatz des Artikels bestätigt diese Überlegungen dann auch:
Die Studie kann eine Kausalität zu den Techniken der Reproduktionsmedizin nicht belegen. Die meisten Experten neigen zu der Ansicht, dass die Fehlbildungen Teil der Störung sind, die auch zur Infertilität führt.
Was sind empirische retrospektive Studien
Empirische Studien sind immer retrospektiv. Das bedeutet, dass man sich Geburtsregister, Krebsregister und ähnliche große Datensammlungen auf statistische Zusammenhänge hin anschaut. Die Ergebnisse dieser Studien leben von der schieren Zahl, die dann eine statistische Absicherung möglich macht.
Der Empiriker nimmt eine möglichst große Zahl von möglichst gut dokumentierten Datensätzen und schickt sie durch seine Statistik-Programme. Es wird damit versucht, systematisch auftretende Besonderheiten zu isolieren.
Nun hilft es jedoch wenig, wenn man zwar 30.000 Geburten analysiert, in dieser Zahl jedoch weniger als 300 Kinder enthalten sind, die mit Hilfe der künstlichen Befruchtung entstanden sind. Dann ist zwar eine recht gute Aussage über die auf normalem Wege gezeugten Kinder zu machen, aber der Versuch eine Statistik von 300 Kindern machen zu wollen, muss scheitern.
Sinn empirischer Studien
Ergebnisse empirische Studien sind also nur selten von großer statistischer und wissenschaftlicher Aussagekraft. Sie sind aber sehr wohl in der Lage, die Richtung für exaktere Studien vorzugeben. Wäre der Zusammenhang zwischen ICSI und Fehlbildungen also noch nie untersucht worden, dann müssten jetzt sämtliche Alarmglocken klingeln und die Ergebnisse mit prospektiven und kontrollierten Studien überprüft werden. Solche Untersuchungen gibt es jedoch zuhauf, gerade in Europa und Deutschland wurden die Folgen der ICSI sehr akribisch untersucht. Die Ergebnisse sind beruhigend, beziehen sich auf viele tausend untersuchte ICSI-Kinder und sind zum Teil sogar kontrollierte Studien.
Ich bin wirklich nicht unkritisch mit den von der Reproduktionsmedizin verwendeten Methoden, aber ich verstehe nicht, wie man eine solch dünne Studie in einer renommierten Fachzeitschrift publizieren kann. Dass sie in der Laienöffentlichkeit (dazu zähle ich auch das Deutsche Ärzteblatt) dann auf großes Echo stösst, ist zu erwarten gewesen und auch nachvollziehbar. Jemand, der sich mit den Studien zum Thema beschäftigt hat, kann sich jedoch nur wundern.
Zum Selbstnachlesen: Original-Studie als PDF
Reefhuis J, Honein MA, Schieve LA, Correa A, Hobbs CA, Rasmussen SA; and the National Birth Defects Prevention Study.
Assisted reproductive technology and major structural birth defects in the United States.
Hum Reprod. 2008 Nov 16. [Epub ahead of print]
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Dr. med. Elmar Breitbach ist Facharzt für Frauenheilkunde, Reproduktionsmedizin und Endokrinologie. Er ist als Reproduktionsmediziner seit mehr als 30 Jahren in der Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit tätig. Dr. Elmar Breitbach ist Gründer und Betreiber von wunschkinder.de.
Unsere erste per ICSI gezeugte Tochter wurde mit multiplen organischen Fehlbildungen geboren, u.a. mit einigen hier im Text erwähnten Erkrankungen.
Ich stellte mir damals (2003) die Frage, ob es mit dieser Form der KB zu tun hatte oder nicht, obwohl alle Ärzte das verneinten. Letztendlich half mir das Grübeln nicht weiter, denn zu ändern war daran nichts mehr. Und es werden eben auch normal gezeugte Kinder mit schweren Fehglbildungen geboren.
Daher ließ ich mich auch nicht von weiteren Behandlungen abschrecken und wurde zweimal dafür belohnt.
Erhöhtes Fehlbildungsrisiko hin oder her, wer sich sehnlichst ein leibliches Kind wünscht, muß dieses eventuell erhöhte Risiko eingehen und wird es auch tun.
Ich persönlich glaube nicht daran, dass die Fehlbildung mit der Methode per se zu tun hat.
Ich halte das für unseriös, mit einer so geringen Fallzahl so detaillierte Ergbenisse zur Häufigkeit von Krankheiten anzugeben, zu der man ein Vielfaches der Fallzahl bräuchte, um statistisch überhaupt einen einzigen Fall dabei zu haben.
Stand hier nicht irgendwo, dass die Fehlbildungsrate auch bei Paaren, die sehr lange für ein Kind gebraucht haben (ohne ICSI), erhöht ist, sogar mit der Rate nach ICSI vergleichbar? Manchmal lohnt die Definition einer weiteren Kontrollgruppe. Aber das wäre obigem Forscherteam sicher zu aufwändig, wo man doch schon mit einer Schulklasse einen t-Test machen kann.
@Dr. Breitbach:
Woran machen Sie fest, dass der Artikel von der Veröffentlichung zurückgezogen wurde?
Ich kann ihn ganz normal aufrufen.
das war in den letzten zwei Tagen zu lesen, wenn man die Webseite aufrief.
ich habe auch gerade gesehen, dass der Eintrag wieder da ist. Über die Gründe dafür ist mir immer noch ncihts bekannt, ich habe den Text meines Artikels aber bereits geändert
Das dünne Studien in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht werden erlebt man auch in anderen Gebieten der Wissenschaft leider immer wieder.
Da hatte vermutlich jemand eine ordentliche Portion Vitamin B.
Im letzten Absatz sagen sie es ja sogar selbst:
"Our findings could have been because of underlying infertility, small numbers or chance. Until further studies have corroborated our findings or clarified the basis for these findings, the practical application of our results is limited."
Das ist schon starker Tobak, wenn Statistiker eingestehen, dass ihre Ergebnisse auch ein Produkt des Zufalls sein könnten (because of chance!!!) .
Man erlebt es übrigens häufiger, dass europäische Studien in den USA ignoriert werden.
Vielen Dank für Ihre Einordnung der Studie und die beruhigenden Worte.
Viele Grüße,
asile
Lieber Herr Breitbach,
Sie schreiben in Ihrem verlinkten Artikel:
"Im Vergleich mit auf normalem Wege gezeugten Kindern ist die Rate an Fehlbildungen für beide Methoden höher."
Genau das ist auch das Ergebnis der hier vorgestellten Studie – Unterschiede zwischen IVF und ICSI wurden gar nicht untersucht. Was wollen Sie uns also sagen?
Readers Digest:
– Für die künstliche Befruchtung sind die Fehlbildungen höher als bei natürlicher Konzeption.
– Für beide Methoden (IVF/ICSI) liegt die Ursache jedoch nicht in der Behandlung, sondern im Risikoprofil der Eltern begründet
– In den verlinkten Artikeln werden "ICSI-Kinder" auch mit natürlich gezeugten Kindern verglichen und auch IVF mit ICSI.
Oder was wollten Sie also fragen?
Sie schreiben:
"Vor kurzem habe ich hier einen Artikel geschrieben, der zeigte, dass Fehlbildungen nach ICSI nicht häufiger sind(*). Und nun erscheint im Deutschen Ärzteblatt ein Beitrag, aus dem das Gegenteil hervorgeht"
Fehlbildungen nach ICSI sind häufiger als nach "normaler" Befruchtung. Das schreiben Sie, das schreibt das Ärzteblatt. Das Ärzteblatt schreibt NICHT, dass Fehlbildungen nach ICSI häufiger wären als nach IVF. Wo sehen Sie also das oben erwähnte "Gegenteil"?
Der Satz, den ich oben mit (*) markiert habe, erlaubt (oder provoziert?) den falschen Rückschluss, Fehlbildungen träten nach ICSI nicht häufiger auf als nach nicht-künstlicher Befruchtung.
@Björn Opitz: Der Punkt mit der Unterscheidung von IVF und ICSI der zugegebenermaßen nicht Thema des aktuellen Artikels ist und deswegen vielleicht zur Verwirrung führen kann, ist wichtig, weil es die methodisch bedingten Ursachen für Fehlbildungen nicht ausschließt aber unwahrscheinlich werden lässt.
Reproduktionsmediziner sehen die Ursache eher in den biologischen Faktoren, die die künstliche Befruchtung überhaupt erst nötig gemacht haben. „Mehrere Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass auch bei natürlichen Schwangerschaften Fehlbildungen häufiger sind, wenn die Befruchtung erst nach vielen Versuchen erfolgreich war“, sagt Michael Ludwig vom Hamburger Endokrinologikum, einem Verbund deutscher Kliniken aus der Hormon- und Reproduktionsmedizin.
Das ist die Kernaussage auf die ich auch herausmöchte, die ich – Ihr Einverständnis voraussetzend – einmal aus Ihrem Artikel im Rheinischen Merkur kopiert habe.
[…] Kürzlich ist eine Studie erschienen, die ein deutlich erhöhtes Risiko für Fehlbildungen der Kinder nach einer künstlichen Befruchtung erkennen ließ. Prof. Ludwig – der Autor einer der größten prospektiven Studien zu Fehlbildungen nach ICSI nimmt dazu in einem Artikel der Ärztezeitung Stellung. Diese decken sich insbesondere hinsichtlich der Aussagen zu Studiendesign mit meiner Einschätzung, die ich in einem gesonderten Artikel bereits veröffentlichte. […]