Das geistige Band

So manches Mal lernt man ja in Fortbildungen etwas, mit dem man vorher nicht gerechnet hat. Zum Beispiel wurde mir am Samstag ein Zitat aus dem Faust präsentiert:

Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.
Faust I – J. W. v. Goethe

Wir versuchen in der Medizin zwar nicht, den „Geist herauszutreiben“, aber wir unternehmen den Versuch, unsere Kenntnisse des menschlichen Körpers wissenschaftlich zu systematisieren. Allerdings verlieren wir uns manchmal im Detail, erreichen sehr profunde Kenntnisse über bestimmte Körperfunktionen, aber oft fehlt uns das geistige Band, um dies dann in den Gesamtzusammenhang zu bringen und wir halten nur die Teile in der Hand. Das geht also schon den Medizinern selbst so.

Von ihm gibt es Zitate für jede Lebenslage
Von ihm gibt es Zitate für jede Lebenslage
Aber im Forum begegnen einem auch häufiger Besucher, die „etwas Lebendigs“ erkennen wollen, nämlich sich selbst. Und heutzutage führt das dann erst einmal zu extensivem Googeln. Es werden Daten, Fakten und manchmal auch hochkomplexe wissenschaftliche Arbeiten zu einem bestimmten Thema gesammelt. Damit treibt man dem Lebendigen jedoch den Geist aus und reduziert es auf – sagen wir mal nur so als Beispiel – den AMH-Wert oder die Schilddrüsenhormone. Wer dann nicht erkennt, dass es sich hier nur um Teile handelt, die man in der Hand hält, sondern nur aus diesen „das Lebendige“ erkennen und beschreiben will, muss zwangsläufig scheitern.

Das „geistige Band“ erhält man übrigens auch nicht mit dem Medizinstudium. Wir Ärzte scheitern beim „Erkennen des Lebendigen“ nur auf höherem Niveau aber letztlich aus den gleichen Gründen wie der googelnde Laie. Das geistige Band besteht zum Gutteil auch aus der Erkenntnis, nicht alles im menschlichen Körper zu kennen und vor allem beliebig steuern zu können.

„Mein AMH-Wert ist unter 1,0 ich kann nicht mehr schwanger werden“ ist daher eine genauso sinnlose Interpretation von Details wie die Frage, warum man mit 2 Grad A Blastozysten auch mal nicht schwanger werden kann. Weil es die Natur so vorgibt, ohne dass wir wirklich sagen können, wie sie das macht.

Manche mögen es Fatalismus nennen. Das wäre falsch, denn wir versuchen natürlich, die Prozesse des Körpers möglichst effektiv zu beeinflussen. Demut ist das richtige Wort und leider ein wenig aus der Mode geraten.

Man darf diese schnell dahingeschriebe Befindlichkeitsbeschreibung des Autors und seine Sicht der Medizin in den Kommentaren gerne gründlich auseinandernehmen.Foto von motograf

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Dann haben Sie in unserem Kinderwunschforum die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen oder Fragen an unsere Experten zu richten. Und hier finden Sie die Übersicht über die andere Foren von wunschkinder.de. Die am häufigsten gestellten Fragen haben wir nach Themen geordnet in unseren FAQ gesammelt.

Dr. med. Elmar Breitbach ist Facharzt für Frauenheilkunde, Reproduktionsmedizin und Endokrinologie. Er ist als Reproduktionsmediziner seit mehr als 30 Jahren in der Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit tätig. Dr. Elmar Breitbach ist Gründer und Betreiber von wunschkinder.de.
 

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Kommentar

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8 Kommentare
  1. Grinsekaetzchen schreibt

    Ich finde das einen guten Gedanken. Und vielen Medizinern würde es gut tun, diesen Gedanken etwas mehr zu beherzigen – gerade in der Repso-Medizin.
    Am Ende unserer langen und ausgesprochen erfolglosen Kiwu-Karriere wirkte unsere Ärztin zunehmend ratlos. Mein Eindruck war, dass sie zu Beginn sicher war, dass sie mich schwanger "machen" kann. Zum schwanger werden gehört aber mehr dazu, es ist und bleibt einfach ein Wunder.
    Und genauso wenig, wie man erklären kann, warum es bei 4 ICSIs und mehreren Kryos nicht geklappt hat, kann man erklären, warum es dann plötzlich zwei mal hintereinander spontan geklappt hat (bei OAT III).
    Ich finde Demut da durchaus angebracht.

  2. zirbengeistchen schreibt

    Lieber doc. Anscheinend habe ich Sie zu einem artikel inspiriert. Das freut mich aber 🙂
    Sind übrigens sehr gute und hilfreiche gedanken!

  3. Greta schreibt

    danke, doc! das wunder des lebens bleibt immer ein bisschen unerforscht 🙂 und das ist m. E. auch gut so. bei dem, wo man helfen kann, helfen gute ärzte ja auch weiter – und noch bessere sogar "mit band"…

  4. kleines schneckchen schreibt

    Liebes Kinderwunsch Team,
    Das ist ein wundervoller Artikel, den ich so vollinhaltlich unterschreiben kann! Ich möchte sogar noch einen (mehrere?) Schritte weiter gehen. So wie es hier beschrieben wird, ist es mit ALLEM im Leben. Ich zB komme eher aus der Partnerwunschecke. Habe mir den Kinderwunsch für Kind Nr 1 als Single erfüllt (6. HI war mein Volltreffer) da das mit einem festen Partner trotz sehr guter Voraussretzungen nie klappte. Als dann mein Sohn ein Jahr alt war, war dann auch unverhofft der passende Partner da. Mittlerweile haben wir geheiratet. Dass für Kinderwunsch Nr 2 wieder Fremdsperma nötig sein wird, ist wohl auch so eine Laune des Lebens.
    Und mit anderen Dingen ist es auch so: Da schreibt einer guter Ausbildung und Berufserfahrung hunderte erfolglose Bewerbungen. Ein anderer läßt unbedarft drei Briefchen in die Welt flattern und kann zwischen 2 Jobs wählen. Quintessenz: man steckt nicht drin, jeder hat seine Baustellen, alles ist möglich!!!

  5. Kindeshalb Kinderwunschberatung schreibt

    Das sind erstmal sehr ungewöhnliche Worte aus der "Feder" eines Reproduktionsmediziners! 🙂 Aber sie sind gut und machen mir Hoffnung. Ich erinnere mich an meine eigenen Kinderwunschzeit und das Gefühl, dass ich mich oft auf meine Laborwerte oder die Anzahl meiner Follikel reduziert gefühlt habe. Eine umfassende Begleitung wäre wichtig, die Körper, Geist und Seele mit einbezieht.Vielleicht auch für die Ärzte und das ganze Personal, die letztendlich auch auf ihre Funktion reduziert werden. Die Entstehung menschlichen Lebens bleibt bei aller Technik und Forschung doch letztendlich ein großes Wunder und an diesem Punkt könnten wir uns alle auf gute Art und Weise begegnen und ins Gespräch kommen.

  6. Rebella schreibt

    Ich denke, es liegt auch daran, dass ein Arzt fast nie den Patienten in seinem Gesamtbild kennt. Was ist das für ein Mensch? Was hat der noch so für Besonderheiten? – Ein Arzt muss sich meist auf die funktionale Ebene beschränken.

    Superschön wäre natürlich, wenn ein Reproduktionsmediziner gleichzeitig noch Psychologe (und bestenfalls noch Humangenetiker) wäre. Aber wer kann das schon alles studieren? Da kommt dann die Arbeitsteilung und eben das Zusammenfügen von mehreren Teilen.

    Es ist aber schön, wenn allen daran Beteiligten diese Tatsache bekannt ist und man dann möglichst gut zusammenarbeitet.

    Und das letzte Bisschen, ob es nun klappt oder nicht, bleibt trotzdem der Natur vorbehalten. Egal, wie perfekt der Mensch gearbeitet hat. …

  7. Belle und Isa schreibt

    Lieber Dr. Breitbach,
    das ist der mit Abstand beste Artikel, den ich seit langem irgendwo zum Thema gelesen habe. Und ich finde ihn weit entfernt von Befindlichkeit 😉
    Punkt.
    Danke dafür.
    Herzlich, Isa

  8. JoHa schreibt

    Respekt. Respekt davor, einzugestehen nicht allmächtig zu sein. Ich habe oft das Gefühl, dass viele Ärzte die Schuld auf den Patiennten schieben, sobald sie an einem Punkt angelangt sind, an dem es nicht mehr weiter geht. Manchmal würde es auch den Betroffenen helfen zu hören, dass nicht alles möglich ist, solange es man nur versucht.